Im
Bus
Träge fädelte sich die
Rauchfahne durch das Seitenfenster des Busses. Nicht ein Windhauch
kräuselte sie. Der Fahrer lehnte sich mit seiner Zigarette zurück und
schloss die Augen. Schweißränder blühten unter seinen Achseln.
Schweinehitze. Er hatte Pause. Fast eine Viertelstunde. Normalerweise
hätte er die Türen geschlossen und die Fahrgäste draußen stehen lassen,
aber dann wäre er hier drin erstickt. Weil Fahrgäste grundsätzlich kein
Verständnis dafür hatten, dass der Fahrer eine Pause an der
Endhaltestelle brauchte, hatten sie sich durch die offenen Türen
hereingeschafft und auf die Plätze gesetzt. Zuerst kam schwerfällig die
Oma. Bestimmt über neunzig. Sie trug die lächerliche Schwälmer Tracht,
die nicht einmal jungen Mädchen hübsche Beine machte. Mindestens acht
Unterröcke blähten die Taille der sowieso nicht ganz schlanken Frau
gewaltig auf. Vollends peinlich wurde das Ganze durch weiße
Strickstrümpfe, die krampfadergeschmückte Knie unter den Röcken
aufblitzen ließen. Sie trug sogar das aus ihrem schütteren Haar steil in
die Höhe getürmte Krönchen, das zur Tracht gehörte.
Was die wohl
hierher trieb, so weit von daheim? Er machte sich gerne Gedanken über
seine Fahrgäste und deren Beweggründe, in den Bus zu steigen. Vielleicht
war sie beim Arzt. Das taten Frauen in dem Alter mit wachsender
Leidenschaft. Vielleicht war sie hier ins Heim gesteckt worden. Oder
vielleicht hatte jemand sie zu sich genommen.
Dann erschienen die
Zwillinge. Die waren bekannt, nicht zu übersehen. Jeder von ihnen
brachte mindestens fünf Zentner auf die Waage. Wenn sie den Bus
betraten, neigte sich die gesamte Karosserie bedenklich zur Seite.
Italiener waren es, noch gar nicht einmal so alt, aber monströs. Wo die
beiden herkamen, war nicht schwer zu erraten. Die Pizzeria direkt am
Wendeplatz der Endhaltestelle war berühmt für ihre riesigen Portionen.
Beide zwängten sich auf die rechte Bank über den vorderen Radkästen.
Beide auf eine Seite. Nicht dass er um die Federn fürchtete, die konnten
selbst diese Belastung aushalten. Aber der zum Gang hin sitzende
Zwilling ließ sein Hinterteil so weit überhängen, dass es für einen
normalen Menschen fast unmöglich war, sich noch an ihm vorbeizuwinden.
Unglaublich, warum machten die das? Die saßen immer so. Dabei war der
Bus fast leer und an einem Sonntagnachmittag war auch kein Gedrängel zu
erwarten.
Immer wenn die beiden
mitfuhren, nahm er sich vor, bei der Imbissbude an der anderen
Endhaltestelle nur die kleine Portion Pommes zu bestellen. Ohne Mayo. Na
ja, er war auch nicht schlank, aber bis man es so weit kommen ließ ...
Durch halb zusammengekniffene Lider blinzelte er auf die Uhr. Noch fünf
Minuten.
Der dritte Fahrgast war
ein Mädchen, ganz in Schwarz. Sie war schlank, überschlank, und diese
Erscheinung wurde noch durch die modisch auf den Hüften sitzenden
Röhrenhosen mit Umschlägen und Plateausohlen verstärkt. Sie trug einen
schwarzen Rollkragenpullover. Bei dieser Hitze! Das Gesicht war
totenbleich. Im Nasenflügel blitzte ein Diamant. Sie war kahlköpfig. Was
war das? Punk, Grufti, Skinni? Lächerlich jedenfalls. Was fand die
dabei?
Die Kleine setzte sich
ganz hinten auf die letzte Bank in die Ecke. Aufseufzend richtete er den
Fahrersitz auf und startete dröhnend den Motor. Der Minutenzeiger der
Uhr ruckte auf die zwölf. Vierzehn Uhr. Im Schritttempo bewegten sich
die Räder sanft über den weichen Asphalt des Platzes. Die Ampel dort
vorn vor ihm war rot, aber bis er sie in dem Tempo erreichte, war sie
mit Sicherheit grün. Der Weg führte quer über die Straßenbahnschienen,
über die Hauptverkehrsstraße in die schmale Nebenstraße und im Mäander
durch die Vorstadt. Fast genau eine Stunde dauerte die Fahrt, dann ging
es wieder zurück.
Das Mädchen stand auf und
kam vorsichtig nach vorne auf ihn zu. Sie balancierte die
Schaukelbewegungen des Busses aus und lief mit einem herablassenden
Lächeln an der alten Frau vorbei, weiter durch den Mittelgang, bis sie
die Bank mit den Zwillingen erreicht hatte. „Pardon“, murmelte sie
leise, aber der halb in den Gang hineinhängende Hintern wurde dadurch
auch nicht schmaler. Sie schlängelte sich angestrengt, fast auf die
andere Sitzbank gleitend, vorbei und stand dann vor der Schranke, die
das Fahrerhaus von der Fahrgastzelle trennte. Von nahem betrachtet, war
sie erschreckend mager. Nur Haut und Knochen. „Einmal Stadtmitte“, sagte
sie und zückte ein Bügelportemonnaie.
„Fünf Euro.“ Der Bus fiel
in ein Schlagloch. Sie stellte für das Gleichgewicht die Beine breit
auseinander und öffnete das Portemonnaie mit beiden Händen, während sie
die knochige Hüfte an der Schranke abstützte. Was für Hände die hatte!
Fast Krallen, so mager. Wie der Tod. Da fehlte ja nur noch die Sense. Er
sah auf die drei Eurostücke, die sie in die Kleingeldmulde legte. Gleich
wechselte sie zwei davon durch Zweieurostücke aus. Dann grinste sie mit
gelben Zähnen und legte einen Euro zurück. „Für Sie. Solidarität im
Angesicht des Endes macht uns alle zu Brüdern.“
Er war überrascht.
Trinkgeld gab es selten. Seine Finger berührten das Tastenfeld des
Fahrkartendruckers.
Albstätter Tagblatt:
Schwerer Unfall am Wendeplatz
Ein Linienbus wurde von der
Straßenbahn seitlich mit einer Aufprallgeschwindigkeit von etwa sechzig
Stundenkilometern erfasst und über eine Strecke von fast fünfzig Metern
mitgeschleift. Der 53-jährige Fahrer des Busses war sofort tot. Zwei
38-jährige Passagiere im vorderen Teil starben am Unfallort, ohne das
Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Die 97-jährige Frau aus dem hinteren
Fahrgastraum erlitt nur leichte Verletzungen, erlag jedoch noch im
Rettungswagen einem Herzinfarkt. Das Mädchen, von dem sie in ihren
letzten Minuten redete, wurde nicht gefunden. Unfallursache war das
Überfahren eines Haltesignals. Die Kasse des Fahrers wies einen
Überschuss von sechs Euro aus. Laut Angaben der Polizei …
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